Wallace Hume Carothers (1896 – 1937)
Chemie-Überflieger mit Banklehre
Wallace Hume Carothers verstarb leider bereits sehr jung. Er nahm er sich schon mit gerade einmal 41 Jahren das Leben. Es klingt aus heutiger Sicht verrückt, aber Carothers hielt sich für einen wissenschaftlichen Versager und litt unter fürchterlichen Depressionen. Was für eine Fehleinschätzung: Die heutige Welt wäre ohne Carothers Arbeit nicht denkbar. Denn der Chemiker gilt nicht nur als der geistige Vater der Polyamid-Fasern, sondern schaffte mit der dazugehörigen, nach ihm benannten chemischen Gleichung zugleich die Grundlagen für die Herstellung vieler anderer Polyamide. Und der sogenannten Polyester – unter anderem die, die wir in Form von „Plastikflaschen“ im Supermarkt in die Pfandmaschine einwerfen. Und den künstlichen Kautschuk Neopren entdeckte sein Team gleich mit.
Aber zunächst zu Carothers Wurzeln: Wie viele andere Kunststoff-Heroen kam Carothers, geboren 1896 in Iowa, auch erst über Umwege zur Chemie. 1914, mit 18 Jahren, ließ er seine Highschool zum letzten Mal hinter sich. Allerdings nur, um darauf eine Ausbildung zum Bürokaufmann anzugehen – eine Idee seines Vaters. Dabei hatte sich der junge Wallace eigentlich für die Wissenschaft begeistert. Sein Pech war, dass sein Erzeuger davon nichts hielt – und nebenbei Vizepräsident des Colleges war, an dem sein Sohn sich fortan mit Rechnungs- und Schriftführung statt mit chemischen Formeln auseinandersetzen sollte.
Als Professor ins Industrielabor
Es dauerte aber nur ein Jahr, bis der junge Mann sich durchsetzte. Schon 1915 nahm Carothers in Missouri ein Studium der Naturwissenschaften in Angriff. Und startete durch, als müsse er die verlorene Zeit im Zeitraffer aufholen: Als sein Professor in den ersten Weltkrieg ziehen musste, übernahm Carothers dessen Kurse, 1921 hatte er den Abschluss in der Hand.
Und es hagelte die ersten akademischen Jobs: noch im Abschlussjahr als Dozent an der Uni South Dakota, 1922 an der University of Illinois; der Doktor in Chemie folgte 1924, 1926 wurde er Professor für Organische Chemie in der amerikanischen Eliteschmiede Harvard. Wo er offenbar so schnell so viel Wirbel machte, dass DER amerikanische Chemieriese dieser Zeit schlechthin, DuPont, ihn zum Leiter eines neu errichteten Forschungslabors ernannte. Von wegen Versager!
Bei seinem neuen Arbeitgeber bestand Carothers Aufgabe ab 1928 darin, gewissermaßen das Morgen zum Heute zu machen – anders ausgedrückt: neue Materialien zu entwickeln, die bis dahin noch niemand je gesehen hatte. Und auch das erledigte Carothers mit bemerkenswertem Tempo: Schon 1930, das Labor war gerade mal vier Jahre in Betrieb, die Farbe an den Wänden also praktisch noch frisch, konnte er seinen Vorgesetzten einen neuen, künstlichen Gummirohstoff auf den Schreibtisch legen, ein Polymer aus dem Baustein Chloropren.
Moosgummi für Taucheranzüge: schon mal nicht schlecht
Polychloropren oder Neopren waren natürlich eine feine Sache. Heute kennt man Carothers allerdings eher als Erfinder der Polyamide – hier ein früher Polyamid-Armreifen, produziert zwischen 1938 und 1940.
Chloropren war durchaus mit dem Grundbaustein des natürlichen Gummis Isopren verwandt. Zwar recht fern, aber immerhin. Die grundlegende Idee zu diesem Material hatte ein belgischer Botaniker (!) und Chemieprofessor aus Carothers erweiterten Team gehabt, Julius Arthur Nieuwland, aber Carothers hob ihn auf die nächste Stufe: Nach einigen Mühen gelang es ihm und seinen Tüftlern, eine Methode zu finden, mit denen man das neue Material endlich aus den Reagenzgläsern holen und in größeren Anlagen wirtschaftlich herstellen konnte. Wer weiß: Vielleicht hat Carothers hier ja sogar seine vorangegangene Ausbildung an Abakus und Rechenstab geholfen – Taschenrechner wurden ja erst viel später erfunden.
Das neue Polymer wurde zuerst Dupren genannt (nach DuPont natürlich) und später in Neopren umgetauft. Unter diesem Namen kennt man es heute noch – denn recht bald stellte man fest, dass es im Vergleich zu seinem natürlichen Vorbild Naturkautschuck viel mehr Sonne, Ozon und Öl aushielt. Ideal zum Beispiel für Moosgummi-Taucheranzüge, die am Meer ja einiges an Sonnenlicht aushalten müssen. Und da man Polychloropren mit Lösemitteln gut verflüssigen kann, machte man sogar Klebstoffe daraus. Gutes Material, steile Karriere.
Ein riesiger Zoo an Bausteinen
Eine Bürste aus der Vor-Polyamid-Zeit, zwischen 1920 und 1940 noch aus Cellulosenitrat und Naturborsten, etwa von Kühen, gemacht. Carothers fand heraus, wie man sie aus Kunststoff produzieren konnte.
Schon Neopren hätte also durchaus für einen Eintrag in diese Liste der Polymer-Vordenker ausgereicht. Aber Carothers hatte noch mehr Asse im Ärmel. Fünf Jahre nach der Polychloropren-Erfindung schoss er das zweite Mal aufs Tor und präsentierte endlich das, was Profis heut noch mit dem Namen Carothers assoziieren: Fasern aus dem Polyamid Nylon (in der Fachsprache Polyamid 66 oder PA66).
Der Clou – nach elf Jahren Entwicklungszeit und Entwicklungskosten von 27 Millionen US-Dollar (1925er-Dollar natürlich: die 27 wären heute etwa 400 Millionen wert): Man nehme die heiße Polyamid-Schmelze und presse sie durch eine feine Düse. Den entstehenden Faden kühle man ab und ziehe ihn kalt über Walzen in die Länge – fertig ist die Faser! Das sogenannte Verstrecken verleiht ihr übrigens Glanz und Festigkeit. Nylon-Fasern waren damit die ersten, die man praktisch komplett am Reißbrett entworfen hatte. Und die komplett im Industrielabor gestaltet wurden!
Polyamide: riesige Spielwiese für Polymerchemiker
Fasern aus Kunststoff: Ende der 1930er Jahre ganz neu, heute selbstverständlich: Eine Nagelbürste mit Polyamid-Fasern, 1998.
Tatsächlich kann man Polyamide aus einer ganzen Reihe von Monomeren machen, die allesamt Kunststoffe mit etwas anderen Eigenschaften ergeben. Für Experten: Aminocarbonsäuren, Lactame, Diamine, Dicarbonsäuren – eine riesige Spielwiese für kreative Chemiker. Bis heute übrigens: Tatsächlich werden auch in unserer Zeit noch neue Polyamide mit besonderen Begabungen vorgestellt, zum Beispiel solche, die besonders große Hitze vertragen. Mit der Familie immer neuer Polyamid-Bausteine wurden über Jahrzehnte ganze Lehrbuchseiten gefüllt.
Aber schon die mit den eher bescheidenen Mitteln von damals produzierten Polyamide schlugen mächtig ein! An bunte Kunstfaser-Hemden mit farbigen Hippie-Mustern dachte damals natürlich noch niemand. Aber bereits 1938 staunte die Welt über Zahnbürsten mit Nylonfasern – kein Vergleich zu den älteren Produkten aus Pferdehaar oder Kuhborsten, auch wenn die ersten Kunst-Borsten noch sehr hart waren. Und natürlich über Nylon-Strümpfe! Das erste Kontingent, immerhin vier Millionen Paar, war in New York nach wenigen Stunden ausverkauft.
Strümpfe aus einem kriegswichtigen Kunststoff
Aus Polyamid-Fasern kann man nicht nur Strümpfe und bunte Hemden machen. Sondern auch sichere Kletterseile (1999).
Nachdem die USA in den zweiten Weltkrieg eintraten, wurden Nylon-Strümpfe leider schnell zur Mangelware. Ab 1942 ging die komplette Nylon-Produktion ans Militär: für Fallschirme, Seile, Fliegeranzüge und Fäden für Wundnähte, für Filter zur Gewinnung von sauberem Blutplasma, Hängematten und Netze für das feuchtwarme Klima im Pazifik. In ganz kleiner Serie wurden die begehrten Strümpfe allerdings schon noch produziert: als Bestechungsmittel des CIA für europäische Informanten.
Natürlich fand ein derart wichtiger Werkstoff auch anderswo schnell Nachahmer: In Deutschland entwickelte man während des Kriegs eine ähnliche Kunstfaser aus einem ähnlichen Polyamid (Polyamid 6 oder PA66) und taufte sie auf den Namen Perlon.
Aber der Siegeszug seines Kunststoffs nahm erst nach Carothers Freitod 1937 so richtig Fahrt auf. Im Februar dieses Jahres meldete er noch das Patent für die Strumpfherstellung an, den ganzen großen Rest erlebte er nicht mehr.
Heute kann man in keinen Super- oder Baumarkt, in keine Boutique, nicht einmal ins Krankenhaus gehen, ohne mit Produkten aus Nylon oder anderen Polyamiden in Berührung zu kommen: Medizinisches Nahtmaterial, Arbeitsschutz-Handschuhe, Dübel, Klampen, Filterbeutel, Farbbänder, Tennisseiten, Dessous, Taschen … und das ist nur ein winziger Teil. Vielleicht haben Sie Lust, ein paar weitere zu suchen. Carothers würde sich geehrt fühlen.