Otto Röhm (1876 – 1939)
Durchsichtige Geigen und transparente Möbel
Wer sich mit dem Lebenslauf von Otto Röhm auseinandersetzt, begegnet einem Mann, der der Welt nicht nur einen großartigen Werkstoff hinterließ.
Sondern zugleich jemanden, der an enorm vielen Dingen interessiert und dennoch ausgesprochen zielstrebig war – eine seltene Kombination! Röhms Name steht heutzutage vor allem für einem ganz besonderen transparenten Kunststoff: Plexiglas, mittlerweile zu einem allgegenwärtigen Markennamen geworden wie vielleicht noch Tempo oder Uhu. Nebenbei: Man kann aber auch Acrylglas sagen. Oder Polymethylmethacrylat – das ist der „chemische Name“ des Kunststoffs, den aber außerhalb von Chemielaboratorien kaum jemand aussprechen kann. Darum darf man das sehr gerne auch „PMMA“ abkürzen, da weiß in der Fachwelt auch jeder Bescheid.
Aber dazu später. Jetzt erst einmal zu Otto Röhm, der 1876 in Öhringen bei Heilbronn geboren wurde. Er kam wie viele andere berühmte Forscher seiner Zeit eher über einen kleinen Umweg an die Uni: Nach seiner mittleren Reife machte er erst einmal eine Lehre zum Apothekergehilfen. Dieser Job schien ihm aber schnell zu eng zu werden, also beschloss er, ein dreisemestriges Studium der Pharmazie anzuhängen – das war damals die Voraussetzung dafür, einmal eine eigene Apotheke führen zu dürfen.
Und bei diesem Studium muss ihn die Liebe zur Naturwissenschaft vollends getroffen haben, denn nachdem er endlich examinierter Apotheker war, hängte er noch ein weiteres Studium an: Röhm wurde Chemiker und gab 1901 seine Doktorarbeit ab. Ihr Titel deutete schon an, womit er sich später noch eingehender beschäftigen würde: „Polymerisationsprodukte der Acrylsäure“.
Endlich das eigene Ding machen!
Nach diesem Abschluss nahm der frisch gebackene Doktor der Chemie erst einmal Jobs bei verschiedenen Unternehmen an: bei Merck in Darmstadt, bei einer Landwirtschaftlichen Versuchsanstalt (Baugewerbeschule) in Stuttgart, sogar bei einem Gaswerk wurde er tätig (Gaisburg). Und entwickelte Produkte, die vielen Menschen das Leben leichter machten, oft mit Hilfe von Enzymen. Ein Beispiel ist eine neue Beize für die Lederherstellung, die im Jahr 1907 auf den Markt kam. Und bestimmt bei vielen Anwendern gut ankam, die bis dahin stinkenden Hundekot für diesen Zweck einsetzten. 1914 erfand Röhm ein Wäsche-Einweichmittel namens „Burnus“, ebenfalls mit Enzymen. Damals eine absolute Neuheit, heute üblich.
1907 war aber auch das Jahr, in dem Röhm seine Errungenschaften endlich unter eigenem Namen vermarkten wollte, anstatt seine Ideen als angestellter Chemiker an der Labortür abgeben zu müssen: Zusammen mit einem Freund, dem Kaufmann Otto Haas schraubte er das Schild „Röhm & Haas OHG“ an ein kleines Fabrikgebäude in Esslingen bei Stuttgart.
Und statt weiter an Ersatzstoffen für Hundekot zu arbeiten, wandte er sich hier ab etwa 1912 wieder seinem Steckenpferd zu, das ihn bereits an der Uni interessiert hatte: Den sogenannten Acrylaten, einer chemischen Verbindungsklasse, die aus einem regelrechten Zoo von Substanzen bestand, die zum Teil noch völlig unbekannt waren. Eine dieser Varianten, selbst wieder Mittelpunkt einer ganzen Chemikalien-Großfamilie, die er nach und nach erkundete, waren die sogenannten Methacrylate. Diese farblosen Flüssigkeiten verrührte er ab etwa 1920 in seinen Kolben.
Jahrelange Tüftelei bringt den Durchbruch
Und damit – beziehungsweise mit dem Kunststoff, den man daraus herstellen konnte – gelang Röhm das richtig große Ding! Denn wenn man Methylmethacrylate (OK, nennen wir sie einfach MMA), chemisch ankickt, entweder durch Bestrahlen mit UV-Licht oder durch Zugabe bestimmter anderer Stoffe, verwandeln sie sich in einen transparenten Feststoff – PMMA.
Otto Röhm kommt in dieser Geschichte insbesondere das Verdienst zu, das Potenzial dieses Werkstoffs erkannt zu haben. Denn da steckten tatsächlich eine Menge Möglichkeiten drin. Zu den ersten Produkten, die man daraus machte, gehörten im Jahr 1928 sogenannte Acrylfilme (bzw. -folien), die man noch irgendwo zwischen biegsamem Glas und steifem Kautschuk einsortieren musste. Weitere frühe Produkte waren splittersichere „Luglas“-Schutzbrillen, Gasmasken und Sichtkanzeln von Flugzeug-Bombern – Hitler bereitete sein Land zu dieser Zeit auf seinen Angriffskrieg vor.
Aber auch die Fenster der berühmten Zeppeline bestanden daraus. Und natürlich landete Plexiglas auch in zivilen Anwendungen: in Reflektoren für Radpedale, in Oberlichtscheiben für Omnibusse, in Linealen und Zeichengeräten. Sogar Geschirr und Schmuck machte man daraus.
Im selben Jahr – 1928 – entstanden auch die ersten Verbundscheiben aus zwei Glasscheiben, zwischen denen man flüssiges MMA aushärten ließ. Diese Methode benutzt man übrigens heute noch, um Acrylglasplatten herzustellen: Man gießt MMA zwischen zwei Glasscheiben, wartet, bis es hart ist und nimmt die Scheiben wieder ab – so erhält man Produkte mit einer absolut glatten Oberfläche. Auf diesem Weg entstand wohl um 1933 unter wesentlicher Mitarbeit seines ebenso vom Forscherdrang beseelten Laborleiters Walter Bauer (1893 bis 1968) schließlich die Herstellung eines „unzerbrechlichen organischen Glases“, des ersten „richtigen“ Plexiglas´. Mittlerweile war es so weit entwickelt, dass es Lichtstrahlen ohne Verzerrung durchließ. Auf der Weltaustellung 1937 in Paris erhielt Röhm dafür zurecht eine Goldmedaille – zwei Jahre vor seinem Tod in Berlin 1939.
Ziehen, biegen, pressen, fräsen, sägen, polieren
Aber Plexiglas machte weiter von sich reden – nicht nur als transparenter Kunststoff mit einem bezaubernden Glanz. Es war auch in der Werkstatt ein regelrechter Tausendssassa. Wenn man die thermoplastischen Plexi-glas-Platten erwärmt, kann man sie ziehen, biegen, pressen und sogar mit Heißluft an die Innenwände einer Form blasen. Kaltes Plexi- bzw. Acrylglas kann man fräsen und auf der Drehbank verarbeiten – so ähnlich wie Holz, nur dass man es sogar polieren kann. Warum also nicht auch Möbel daraus herstellen?
Oder Musikinstrumente? Es gab sogar Geigen aus Plexiglas – heute begehrte, aber leider auch sehr empfindliche Objekte mit hohem Sammlerwert. Übrigens, kleiner Vorgriff: Auch der berühmte durchsichtige Flügel des Deutschen Chansoniers Udo Jürgens war aus PMMA.
Nur wenige Fans in Amerika
Nach dem zweiten Weltkrieg änderte sich die Nachfrage. Seltsamerweise interessierte sich in den USA kaum jemand für Otto Röhms Kunststoff, obwohl das Wissen um dessen Herstellung bereits 1934/1935 in die Staaten transferiert worden war; gerade mal in Jukeboxen konnte man es dort bewundern, bis es viel später ein Comeback in Leuchtreklamen feierte.
Im Nachkriegs-Deutschland dagegen erfreute sich das glasartige Polymer einer deutlich größeren Fangemeinde. Ärzte nutzten es für Zahnfüllungen, Gaumenplatten und Kontaktlinsen – die bis dahin aus Glas geschliffen werden mussten – wie auch Brillengläser, die man nun ebenfalls über den Griff in Röhms Katalog produzierte. Sogar Hüftprothesen versuchte man aus dem Kunststoff herzustellen, was leider ziemlich daneben ging. Als schnell härtender Bindezement war er allerdings zu gebrauchen.
Größere Mengen dürften hingegen in andere Produkte gegangen sein. Zum Beispiel Überdachungen für Wintergärten, Bäder, Einkaufspassagen und ganze Bahnhofshallen. Highlight: Die von dem visionären Architekten Frei Otto entworfene, zeltdachartige und zugleich transparente Bedeckung des Münchener Olympiastadions 1972. Sie brach mit allen bis dahin üblichen Konventionen und bestand aus: PMMA. Aber auch die Fenster des Airbus 320 bestehen aus Plexiglas – nicht zuletzt, weil UV-Licht, sonst ein regelrechtes Gift für Kunststoffe, PMMA wenig anhaben kann. Nicht zu vergessen: Kfz-Rückleuchten und Panzerglas.
Bis heute hat Acrylglas kaum an Bedeutung verloren, auch wenn es mittlerweile eine Reihe anderer transparenter Kunststoffe wie zum Beispiel Polycarbonat gibt. Großer Abnehmer ist immer noch die Medizintechnik – zum Beispiel für die maßgenaue Herstellung von künstlichen Linsen mit exakt berechneter Schärfe. Plexiglas findet man in Solarmodulen und Gewächshäusern, in der Werbung, in Schutzabdeckungen gefährlicher Maschinen, in den dicken Wänden von Seewasser-Aquarien – und tatsächlich: In Designer-Möbeln.