Hermann Staudinger (1881 – 1965)
Der Herr der Makromoleküle
Was sind Kunststoffe eigentlich? Wer in der Schule ein wenig aufgepasst hat, dem ist das heute natürlich klar: Kunststoffe bestehen aus Polymeren und geschickt ausgewählten Zusatzstoffen. Und die Polymere sind lange Ketten aus immer gleichen Bausteinen, den sogenannten „Monomeren“.
Gerade in der Frühzeit der Kunststoffe war das aber noch lange nicht klar. Schon seit Urzeiten nutzt zwar sogar die Natur Polymere (wie etwa Proteine, also Eiweiße), aber nur aus den wenigsten davon machte man Kunststoffe (wie etwa aus Cellulose). Und die synthetischen Polymere entstanden lange Zeit oft erst durch reinen Zufall. Zum Beispiel, wenn man Flaschen mit bestimmten Chemikalien zu lange in der Sonne stehen ließ.
Die meisten Chemiker dürften sich wenig dabei gedacht haben, wenn die Substanzen darin allmählich fest wurden. Vermutlich haben sie die Behälter mit den „verdorbenen“ Flüssigkeiten schlicht weggeworfen – so wie wir heute schlechte Milch in den Abfall geben. Darum sind die ersten Jahre der Kunststoffgeschichte geprägt von eher etwas hemdsärmeligen Forschern, die sich trotz allem fragten, ob man aus dem seltsamen Zeug auf der Fensterbank vielleicht etwas Nützliches machen könnte.
Tatsächlich brauchte es erst jemanden, der alle diese Fälle genauer untersuchte und versuchte, herauszufinden, was beim Erstarren etwa von Storax (einem Harz, aus dem das erste Polystyrol entstand) tatsächlich so vorging. Dieser Mann war Hermann Staudinger – der erste Kunststoff-Erklärer. Staudinger entwickelte die chemischen Grundlagen dafür, dass wie heute Polyethylen, Polyurethane, Polyamide und Synthesekautschuke haben. Unter anderem.
Sauberer Akademischer Lebenslauf
Löffel aus Polystyrol, aus den 1950er Jahren. Das erste Polystyrol entstand durch Zufall im 19. Jahrhundert – erst Hermann Staudinger konnte diesen Prozess erklären und so die Tür zum Kunststoffzeitalter aufschlagen.
Dafür, dass er die Welt einmal derart bewegen würde, ließ sich Hermann Staudinger, geboren 1881 in Worms als Sohn eines Gymnasiallehrers, mit seinem Studium zunächst ziemlich Zeit. Anders als mancher Zeitgenosse, den es bereits mit jungen Jahren an die Universität verschlug, schrieb er sich erst mit 18 Jahren ein. Vor dem Abi absolvierte er zunächst eine Schreinerlehre – sein Vater wollte, dass er etwas Ordentliches lernt. Und überhaupt wollte er eigentlich Botaniker werden.
An der Universität legte er dann aber einen Zahn zu: Er entschied sich neben dem Botanik-Studium auch für eines der Chemie und besuchte Vorlesungen in Darmstadt, München und Halle. 1903, mit 22 Jahren also, hielt er seine Promotionsurkunde in Händen und arbeitete einige Jahre als wissenschaftlicher Assistent an der Uni Straßburg. Er entdeckte recht interessante, neue Verbindungen, wurde damit 1907 habilitiert und konnte noch im selben Jahr einen Professorenstuhl an der TH Karlsruhe besetzen. 1912 lockte man ihn an die ETH Zürich, ab 1926 leitete er das Chemische Laboratorium der Uni Freiburg.
Aber es war die Zeit an der ETH, die ihn auf die Spur zu den seltsamen Substanzen setzte, die man heute Makromoleküle nennt – und die der wichtigste Bestandteil unserer modernen Kunststoffe sind.
„Materialien und Bauwerke“
Schon nach etwa zehn Jahren Forschungsarbeit an der ETH, 1922, trat er mit einer bemerkenswerten Theorie an die Öffentlichkeit: Synthetische Polymere – aus denen unsere Kunststoffe im Wesentlichen bestehen, sind sogenannte Makromoleküle. Die, die man in der Natur findet übrigens auch. Also zusammengesetzt aus mehreren tausend Atomen: Makro heißt ja soviel wie „groß“.
Etwa ab dieser Größenordnung hören Moleküle auf, sich nicht mehr wie Flüssigkeiten oder Kristalle zu verhalten; man kann sie zum Beispiel nicht mehr – oder nur noch schwer – auflösen. Manchmal kann man sie immer-hin schmelzen; bei anderen gelingt nicht einmal mehr das, etwa bei vernetzten Kautschuken, die eher verkohlen als flüssig zu werden, wenn man versucht, sie zu stark zu erhitzen.
Eine berühmte Maus aus Polystyrol (1950). Dieser Kunststoff spielte auch bei Hermann Staudingers Beweisführung eine wichtige Rolle.
Und Staudinger fand noch mehr heraus. So gibt es keine genaue Anzahl von Atomen, ab der ein Makromolekül fest wird, wie man es von anderen Stoffen, etwa Wasser, kennt. Nicht 900, nicht 1.000, nicht 1.050; stattdessen ist der Übergang fließend. Wie ein Stoff sich in dieser Angelegenheit benimmt, darüber entscheidet letztlich das Gewicht der Moleküle darin: Leichte Makromoleküle mit wenigen Atomen sind noch zähflüssig wie Honig oder Gele, wenn mehr dazukommen, werden sie wachsartig – und erst dicke Brummer mit vielen tausend Atomen werden irgendwann so unbeweglich, dass sie nach außen wie ein fester Stoff wirken.
Als Beleg für seine Ideen zog Staudinger etwas später das blitzneue Polystyrol heran, das zu dieser Zeit sehr en vogue war. Er selbst verglich seine Moleküle mit Gebäuden: „Moleküle sind Bauwerken ähnlich. Sie bestehen aus diversen Materialien. Liegen nur wenige 100 Materialien vor, lassen sich nur kleine Bauwerke gestalten. Wenn jedoch 10.000 oder gar 100.000 Materialien vorliegen, lassen sich Kirchen, Häuser, Fabrikhallen, Schlösser und Paläste bauen.“
Endlich gezielt auf die Jagd nach neuen Kunststoffen gehen!
Ob Staudinger abschätzen konnte, was er damit lostrat? Tatsächlich tat sich hier eine regelrechte Spielwiese für begabte Chemiker auf. Denn Staudingers Theorie sagt auch: Die Vielfalt der makromolekularen Konstruktionen ist unendlich! Je nachdem, welche Bausteine man kombiniert, um zu langen Makro- bzw. Kettenmolekülen zu kommen, erhält man Stoffe mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften. Dank Staudingers Forschung war es plötzlich möglich, aus einfachen chemischen Verbindungen gezielt ketten- und netzförmige Makromolekular-Strukturen zu züchten – man war nicht mehr auf Laborzufälle angewiesen.
Tatsächlich machte das ganze Legionen von klugen Köpfen neugierig, die in der chemischen Industrie bis dato meist noch an neuen Farbstoffen arbeiteten: Hier tat sich für sie schließlich ein völlig neues Arbeitsfeld auf. Und Firmen gründeten neue Laboratorien extra für die neue sogenannte „Makromolekulare Chemie“. Mit so großem Erfolg, dass Unternehmen wie HOECHST, BASF oder BAYER (heute COVESTRO und LANXESS), die sich in ihrer „Frühgeschichte“ eher mit Farben beschäftigen, über die Jahre zu Big Playern in der Kunststoffbranche geworden sind.
Staudinger wurde für seine Forschung 1953 mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt. Er erlebte den Siegeszug immer neuer Kunststoffe noch einige Jahre mit und starb 1965 Freiburg.