Kunststoff Erfinder

Hermann Schnell (1916 – 1999)

Chemiker mit Durchblick

Eine CD hat sehr wahrscheinlich jeder schon einmal in der Hand gehabt. Und der eine oder andere hat vielleicht auch schon einmal versucht, einen dieser Datenträger zu knicken. Mit wenig Erfolg, so ist anzunehmen, denn die meisten CDs bestehen aus Polycarbonat – und es gibt kaum einen transparenten Kunststoff, der derart zäh, eben „unzerbrechlich“ ist. Selbst Acrylglas kann in tausend Teile zerspringen, wenn man es nur heftig genug mit einem Hammer bearbeitet.

Kein Wunder, dass man Polycarbonat, abgekürzt „PC“, inzwischen sogar heranzieht, um daraus Schutzscheiben etwa für Polizeifahrzeuge oder Helmvisiere zu machen. Es gibt tatsächlich Leute, die sagen: Wenn man den antiken Werkstoff Glas heute erfinden würde, würde er in Sachen Zerbrechlichkeit im Vergleich zu Polycarbonat so schlecht abschneiden, dass man ihn glatt verbieten müsste.

Ausbildung beim Polymer-Papst

Lord

Ein Kaffeeservice aus eingefärbtem Polycarbonat – noch aus dem Jahrzehnt, in dem Hermann Schnell das Patent für seinen neuen Kunststoff einreichte (1950 –1960).

Aber wer hat denn das PC erfunden? Das verdanken wir einem deutschen Chemiker namens Hermann Schnell. Einem Mann, der in einer schwierigen Zeit geboren wurde: 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Er dürfte also eine entbehrungsreiche Jugend gehabt haben. Und nicht nur das: Seine Entscheidung, Forscher zu werden, fiel in die nächste dunkle Epoche Deutschlands: Schnell nahm sein Chemiestudium 1937 auf. Doch trotz der Wirrnisse dieser Zeit gelang es ihm, es mit einer Promotion abzuschließen – 1944, mitten in den bösen Zeiten des zweiten Weltkriegs. Man kann nur vermuten, warum er nicht an der Front verheizt wurde wie viele andere seines Alters: Das „Vaterland“ brauchte wahrscheinlich Chemiker, und wer weiß, wie die Kunststoffgeschichte verlaufen wäre, wenn der Krieg länger gedauert hätte.

Eine glückliche Hand hatte Schnell allerdings bei der Wahl seines Doktorvaters: Es war kein geringerer als Hermann Staudinger, der Mann, der der Fachwelt ein paar Jahrzehnte zuvor erklärt hatte, was es mit den neuen Polymeren, die damals überall Furore machten, eigentlich auf sich hatte. Zwar hatte Staudinger seine Nobelpreis-Urkunde noch nicht an der Laborwand hängen, als Schnell bei ihm arbeitete, aber er galt damals schon als weithin respektierter Urvater der modernen Kunststoff-Chemie.

Lord

Ein Serviettenständer aus gefärbtem PC, eines der ältesten PC-Sammerstücke des Kunststoff Museums-Vereins (1950 – 1960).

Schnell dürfte sich bei ihm eine Menge abgeschaut haben: Schon 1946 ergatterte er eine Stelle bei der Bayer AG in Leverkusen. Genau genommen beim Leverkusener Standort der IG Farben, der erst ein Jahr zuvor von den Alliierten eingenommen worden war – die Bayer AG sollte daraus erst 1951 hervorgehen.

Kunststoffe für das Wirtschaftswunder

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Es geht auch in Farbe: Eine unzerbrechliche Kaffeetasse (datiert auf 1950 – 1960) aus PC, einem Werkstoff, der in einem erst kurz zuvor noch völlig zerbombten Chemiewerk entwickelt wurde.

Natürlich war das Werk damals, so kurz nach dem Krieg, in einem fürchterlichen Zustand. Schutt und zerstörte Anlagen und zerschlagene Laborgefäße überall. Aber man krempelte die Ärmel hoch und packte zu, reparierte Maschinen und Anlagen, um möglichst bald wieder produzieren zu können. Die Kollegen an den IG-Standorten im Osten hatten weniger Glück: dort begannen die Sowjets, die Anlagen zu demontieren und wegzuschaffen. 

Aber es musste ja weiter gehen – und jeder wusste: Die Chemieindustrie ist ein zentraler Schlüssel für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands. Schon sehr früh, 1945, fiel deshalb bei den späteren Bayer-Chefs die Entscheidung, sich auch um die Produktion neuer Kunststoffe zu kümmern. Allerdings sollten es keine Massenkunststoffe sein, sondern Produkte mit besonderen technischen Eigenschaften. Aus heutiger Sicht eine mutige Entscheidung, denn damals betrat man mit dieser Vision immer noch kaum erforschtes Gebiet, es stand also zu erwarten, dass man für dessen Erkundung eine Menge Geld in die Hand nehmen musste. Tatsächlich sah man sich damals in einer Art zweiten Gründerzeit! Und Schnell als Ziehkind des Kunststoff-Papsts Staudinger passte bestens in diesen Plan.

Schnell liefert schon nach zwei Monaten

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Schnell war die Endeckung des Polycarbonats erstaunlich schnell gelungen. Hier ein Blaulicht aus diesem Polymer, 1975.

Hermann Schnell arbeitete sich in dieser Aufbruchszeit rasch nach oben: Bereits 1953 hatte er die Beförderung zum Leiter des Hauptlabors am Bayer-Standort in Uerdingen in der Tasche. Dort konnte er endlich seinen eigenen Ideen nachgehen: Nur zwei Monate, nachdem er seinen neuen Arbeitsplatz bezogen hatte, zeigte er, was er bei seinem Doktorvater gelernt hatte: Er schuf das erste Polycarbonat aus den Bausteinen „Bisphenol A“ und Kohlenoxiddichlorid – auch unter den Namen Carbonylchlorid oder, nun ja: Phosgen bekannt. Das PC-Patent datiert auf den 16. Oktober 1953.

Dass er so schnell liefern konnte, ist auch aus heutiger Sicht erstaunlich: Denn Schnell riss mit seinen Experimenten in Uerdingen ein regelrechtes Dogma ein. Carbonate, also die Verbindungen der Kohlensäure, galten damals als viel zu empfindlich, um daraus jemals etwas Brauchbares zu machen. Jeder, der eine Mineralwasserflasche aufschraubt, merkt schnell, was dann mit der Kohlensäure darin passiert: Sie zersetzt sich auf der Stelle zu sprudelndem Kohlendioxid. Die ersten Reaktionen von Schnells Kollegen war daher klar: Der Mann muss verrückt sein! Andererseits war seinem Kollegen Otto Bayer ein Jahrzehnt zuvor mit seinen Polyurethanen ja etwas ähnlich „Durchgeknalltes“ gelungen.

Gelernt ist gelernt

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Der Schick der 1960er, eingefangen in einer Marmeladendose – samt Löffel aus Polycarbonat. Polycarbonat selbst ist zwar transparent, lässt sich aber natürlich auch für die Herstellung herrlich bunter Kunststoffe verwenden.

Dabei setzte Hermann Schnell eigentlich nur um, was sein Doktorvater Staudinger herausgefunden hatte: Kombiniere einen oder mehrere Bausteine mit jeweils zwei reaktiven Enden, die scharf auf eine Reaktion miteinander sind – und schon entsteht daraus ein Polymer. Ähnlich wie Ketten aus zwei Dominosteinen, die zueinander passen, etwa mit der „eins“ und der „fünf“ auf den Seiten – nur dass diese aneinander festkleben, wenn man die zusammenlegt. 

Allerdings … ein klein wenig komplizierter liegt der Fall hier schon. Anders als bei den meisten anderen Kunststoffen, die den Namen ihrer Grundbausteine im Namen tragen, etwa Polyethylen aus dem Gas Ethylen, läuft der Hase bei Schnells Erfindung etwas anders. Allerdings nur auf den ersten Blick. Malt man die Formel seiner Polycarbonate an die Tafel, sieht sie tatsächlich so aus, als ob das Polymer aus „Carbonaten“ zusammengesetzt ist – eine Carbonat-Einheit folgt brav der anderen.

Kleine Kanne

Dank dem unzerbrechlichen PC gehen auch Kaffeekannen seit Mitte der 1960er Jahre nicht mehr kaputt.

Allerdings entstehen diese Baueinheiten erst nachträglich – im Zuge der Reaktion aus zwei ganz anderen Monomeren, die mit den empfindlichen Carbonaten so wenig zu tun haben wie Äpfel mit Kirschen. Für Bayer etwas ganz Neues! Auch wenn Chemikern in den USA, wie sich später herausstellte, in dieser Zeit unabhängig von Schnell etwas ganz Ähnliches gelungen war. Mit ihnen konnte man sich später allerdings einigen.

Kunststoff mit edler Gold-Tönung

Service

Die ersten Polycarbonate waren noch “cognacfarben”; auch später neigten sie ohne entsprechende Additive noch etwas zum Nachdunkeln. Das könnte auch diesem Service (datiert auf 1955 bis 1965) passiert sein, das vermutlich einmal heller war.

Die ersten Polycarbonate, die Schnell aus seinen Reaktionskolben zog, hatten natürlich noch nicht allzu viel mit den wasserklaren, modernen Varianten zu tun: Sie waren noch gelb oder sogar „cognacfarben“. Den Bayer-Verkäufern machte das allerdings wenig aus: Sie machten aus der Not eine Tugend und priesen ihren Kunden gegenüber einfach die „edel schimmernde Goldtönung“ des neuen Kunststoffs.

Erst später, als die Uerdinger ihre Reaktion besser kontrollieren und mit reineren Rohstoffen arbeiten konnten, wurde ihr neuer Kunststoff endlich klar wie Glas. Wobei Polycarbonat durchaus dazu neigt, mit der Zeit, vor allem unter Sonneneinstrahlung, wieder zu vergilben – aber das ist eine andere Geschichte, außerdem kann man das heute mit speziellen Zusätzen oder Lacken verhindern, die den an sich weichen Kunststoff in einem Rutsch gleich auch noch vor Kratzern schützen.

Sicherer als Schießbaumwolle

Geodimeter

Auch ein Werkstoff für die Technik: Hier ein Gehäuse für ein geografisches Messgerät, unter anderem aus PC (1992).

Das neue, transparente Material überzeugte natürlich auch Schnells Kollegen. Zu den ersten Produkten, die man aus Polycarbonat fertigte, gehörten Folien (Makrofol®), die man bei der AGFA in Leverkusen prompt zur Herstellung von Filmen nutzte. Bis in die 1950er Jahre hinein verwendete man hierfür durchaus noch Zelluloid oder Nitrozellulose, also „Schießbaumwolle“, die heute unter das Sprengstoffgesetz fällt. Oder Celluloseacetat, das immerhin nicht mehr so leicht in die Luft geht. PC eignete sich für diesen Job aber noch besser, weil es nicht nur transparent, sondern auch unglaublich reißfest ist. Schnells Kollegen konnten daraus Folien schaffen, die fünfzehnmal dünner waren als ein Haar! 

Dickere Scheiben waren zunächst allerdings noch ein Problem. Erst 1958 schafften es die Bayer-Chemiker, dickere Platten aus PC auf den Markt zu bringen (Makrolon®), die man bald in unverwüstlichen, vandalismusfesten Scheiben für Telefonhäuschen oder durchsichtigen Helmvisieren für Polizisten entdecken konnte.

Durchblick für Neil Armstrong

Recycling von CD-Platten

CDs aus Polycarbonat lassen sich auch recyceln.

In den Jahren darauf wurde Polycarbonat tatsächlich mehr und mehr zu einer ernsthaften Alternative zu Glas – überall da, wo es auf hohe Transparenz, aber auch auf geringes Gewicht und Splittersicherheit ankam. So bestanden zum Beispiel die Visiere der Raumanzüge, in denen Neil Armstrong und Buzz Aldrin 1969 ihre ersten Schritte auf dem Mond machten, aus PC. CDs und CD-ROMs haben wir schon erwähnt; hinzu kamen Steg- Massiv- und Wellplatten aus PC – der Kölner Hauptbahnhof erhielt 1985 ein Dach aus 13.000 Quadratmetern Makrolon®-Platten. Weitere Produkte: Milch- und Babyflaschen, Besteck, Geschirr, durchsichtige Gehäuse und Abdeckscheiben für Elektroartikel und medizinische Geräte, natürlich schicke Automobilscheinwerfer, die das Gesicht unserer Autos seit einigen Jahren prägen. Und in Corona-Zeiten robuste Trennwände.

Autorückleuchte

Etwa ab den 1990er Jahren begannen transparente Polycarbonate auch das Design der Leuchten unserer Fahrzeuge zu revolutionieren. Hier eine undatiertes Produkt für einen DB Mercedes 190 SL – im Vergleich zu dem, was dann kam, noch sehr zurückhaltend gestaltet.

Aber natürlich müssen nicht alle PC-Produkte transparent sein – in glasfaserverstärkten Stäben, mit denen sich Hochspringer über ihr Hindernis wuchten, in Kohlenfaser-Rackets für Tennis-Cracks, in Kunststoff-Skiern in Sandwichbauweise, in Segeljachten, Surfbrettern und Kajaks geht es auch ohne „Durchblick“. Hier ist in erster Linie die Flexibilität des Materials gefragt. Und auch das sind nur wenige von tausenden von Beispielen.

Eine Million für junge Forscher

Josephine

PC wurde schnell auch zu einem Werkstoff für (Licht-) Designer: Hier eine Hängeleuchte mit konvexem Facettenschliff, 2006

Und Schnell? Blieb Bayer weiter treu. Von 1972 bis 1976 leitete er sogar die zentrale Forschung des Konzerns und konnte in seinem Leben über 400 Patente auf sich verbuchen. Die müssen ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht haben: So stiftete er der Gesellschaft Deutscher Chemiker, der Gemeinschaft, unter deren Dach Schnells viele Kollegen aus allen Bereichen der Wirtschaft zusammengefunden haben, im Jahr 1995 eine Million Euro zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Vier Jahre später, 1999, verstarb er in seiner Geburtsstadt Gaienhofen.

Ein Jahr darauf verarbeiteten Ingenieure und Designer bereits rund 1,9 Millionen Tonnen PC zu Produkten wie den oben aufgezählten; rund fünf Milliarden PC-CDs traten ihre Reise in unsere Haushalte an. 2009 lag der Weltverbrauch schon bei 3 Millionen Tonnen – Tendenz steigend.