Fritz Klatte (1880 – 1934)
Eine Erfindung mit Haken
Wenn es Kunststoffe gibt, denen von manchen Leuten das Etikett „umstritten“ angehängt wird, dann gehört einer ganz sicher dazu: PVC, eigentlich „Polyvinylchlorid“.
Dabei ist PVC ein extrem vielseitiger und wichtiger Werkstoff, der aus vielen Branchen heute kaum mehr wegzudenken ist. Seine Entdeckung ist eng mit dem Namen Fritz Klatte verknüpft, der 1880 in Diepholz, Deutschland, geboren wurde.
Auch ihn zog es früh hin zu den Naturwissenschaften; so begann er 1896, mit sechzehn Jahren, eine Ausbildung zum Apotheker, 1902 lenkte er seine Schritte nach Berlin, um dort ein Chemiestudium zu beginnen. Seinen Doktortitel holte er sich bereits fünf Jahre danach in Tübingen ab, um dann eine Stelle bei einem großen Chemieunternehmen anzutreten: bei Griesheim Elektron in Frankfurt, die später zur Hoechst AG gehörte. Manchem dürfte dieser Name heute noch ein Begriff sein.
Klattes Aufgabe dort war schnell umrissen: Suchen Sie einen Ersatz für Celluloid! Dem Material, aus dem damals nicht nur Filmmaterial, sondern auch alltägliche Gebrauchsgegenstände hergestellt wurden – Knöpfe, Schnallen, Kämme. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass dieser Ur-Kunststoff recht brennbar war. Es lockte also ein lukrativer Markt.
Der erste Anlauf ging daneben
Fritz Klatte suchte nach einem Ersatz für Celluloid, das leider noch recht brennbar war. Hier ein Andachtsbuch mit Celluloid-Rücken aus dem Jahr 1890.
Nach einigen Jahren Forschung hatte er tatsächlich einen vielversprechenden, neuen Kunststoff-Baustein in der Hand: Vinylchlorid, ein farbloses Gas mit leicht süßlichem Geruch. Es entsteht, wenn man Acetylen – heute als Brennstoff für das Autogenschweißen bekannt – mit Salzsäure in Verbindung bringt.
Klatte erkannte dank seines chemischen Gespürs schnell, dass dieses Gas es in sich hatte – und versuchte in den kommenden Jahren, etwas kommerziell Verwertbares draus zu machen. Aber er scheiterte am Detail und vielleicht auch an der Zeit: Der erste Weltkrieg lag in der Luft und entflammte wenige Jahre später. Zwar gelang es Klatte in seinem Labor, Vinylchlorid tatsächlich in den Kunststoff PVC zu verwandeln. Der war zwar in seiner Urform, also unmodifiziert – d.h. ohne weitere Zusätze – noch ein recht hartes, sprödes Material, aber immerhin.
In der Zeit um 1914 herum konnte der Entdecker zwar endlich die Grundlagen für die technische Herstellung dieses an sich vielversprechenden Materials legen. Aber es wollte ihm nicht gelingen, daraus ein Produkt herzustellen, das sich auch verkaufen ließ; unter anderem, weil sich der harte Rohkunststoff bei den hohen Temperaturen der KunststoffVerarbeitung wieder zersetzte. 1926 gab Klattes Arbeitgeber seine Patente frei.
Aus der Laborschönheit wird Vinyl
Aber es gab andere, die Klatte darin bestätigten, dass er mit seinen Ideen richtig gelegen hatte. Und da die Patente nun frei waren, konnten sie seine Arbeit weiterführen. 1934 schafft die IG Farbenindustrie AG am Standort der heutigen BASF, was Klatte versagt geblieben war: Ihren Chemiker gelingt es, das Hart-PVC bei 160 °C zu „plastifizieren“, also „weichzukneten“, damit man es weiterverarbeiten kann, ohne dass die gefürchtete Zersetzung eintritt. Schon ein Jahr später stellt die IG Farben PVC in größeren Mengen her.
Zunächst fertigte man daraus eher einfache Produkte wie dünnwandige Gießfolien, Tafeln, Rohre, Stäbe und Profile. Aber dann ging es schnell an hochwertigere Dinge: 1935 entstehen die ersten PVC-Rohre, die auch Druck aushalten. 1941 ist die Geburtsstunde des PVC-Kunstleders, auf dem man zum Beispiel in Londoner Bussen Platz nehmen konnte. Schon nach dem zweiten Weltkrieg erklimmt PVC Platz eins in der Hitparade der am meisten produzierten Kunststoffe der Welt. Man findet es zum Beispiel in Fenstern, Rohren, Dachbahnen, Bodenbelägen und Kabelummantelungen. Außerdem in Schallplatten („Vinyl“), in Scheckkarten, in Verpackungen und an diversen Stellen im Auto.
Heute gilt PVC als der erste wirtschaftlich zu verarbeitende Chemiewerkstoff. Klatte selbst erlebte den späten Triumph seiner Ideen leider nicht mehr: Ausgerechnet in dem Jahr, in dem bei der IG Farben die großen PVC-Kessel zu dampfen beginnen, zog er sich eine Tuberkulose zu, an der er 1934 im österreichischen Klagenfurt verstarb.
Jedes Jahr entstehen Millionen Tonnen PVC
Auch heute noch ist PVC ein breit genutzter Werkstoff. Nicht zuletzt, weil man irgendwann gelernt hat, dem Kunststoff seine ursprüngliche Sprödigkeit (= geringe Dehnfähigkeit) zu nehmen – mit Hilfe von Weichmachern. In Deutschland sind PVC-Fenster ein Exportschlager; auch für PVC-Membrandächer gibt es eine starke Nachfrage. Meist verrichtet Polyvinylchlorid aber eher unauffällig seinen Dienst, etwa in LKW-Planen oder Bodenbelägen. Ab und zu gelangt dennoch ein PVC-Produkt in die Medien, wie zum Beispiel ein aufblasbares Forschungsdeck auf den Wipfeln des Regenwaldes.
In den 1980er Jahren kam PVC allerdings im Zuge der Diskussion um die „Chlorchemie“ und wegen einiger schädlicher Weichmacher ins Gerede; 1988 verlangen die Partei Die Grünen gar den Ausstieg Deutschlands aus der PVC-Produktion. Dazu kam es allerdings nicht: Chemikern und Kunststoff-Anwendungstechnikern gelang es zum Glück recht bald, die problematischen Weichmacher gegen unschädliche auszutauschen. 2018 wurden in der EU immer noch fünf Millionen Tonnen PVC zu nützlichen Produkten verarbeitet, insbesondere für das Bauwesen.